Aufruf zum Start des Netzwerkes
Armut ist beschämend. Sie sollte es nicht für die Betroffenen selbst sein, aber wohl für die Gesellschaft, die Armut toleriert. Dabei müssen wir Armut nicht tatenlos zusehen, im Gegenteil, Armut ist vermeidbar.
Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu den vermögendsten Staaten der Welt. 2015 wurden pro Kopf Waren und Dienstleistungen im Wert von über 37.000 Euro erwirtschaftet. Das Bruttoinlandsprodukt wächst stetig. Dieser Reichtum ist jedoch höchst ungleich verteilt. Die reichsten zehn Prozent der Bevölkerung besitzen über 60 Prozent des Nettovermögens, das reichste Prozent der Bevölkerung gar fast 30 Prozent. Die Vermögenspyramide spitzt sich immer weiter zu.
Der Reallohn hinkt hingegen hinterher. Er stagnierte über Jahre auf dem Niveau der frühen 1990er Jahre. Erst seit 2014 gibt es einen Aufwuchs. Aber auch die Einkommenszuwächse erreichen nicht alle gleichermaßen. Untere Einkommensgruppen haben mit einem stagnierenden oder gar sinkenden verfügbaren Haushaltseinkommen zu kämpfen, während die obersten zehn Prozent sich über zweistellige Zuwächse in den letzten zehn Jahren freuen können.
Die Zahlen zeigen es, Deutschland wird ungerechter. Die unteren 40 Prozent der Bevölkerung werden vom gesamtgesellschaftlichen Wachstum und Reichtum abgekoppelt. Besonders betroffen sind dabei Kinder und Jugendliche. Ihre Armutsquote ist hierzulande deutlich höher als in den skandinavischen Ländern, aber auch die Schweiz, Tschechien oder Zypern sind hier gerechter.
Das Grundgesetz fordert gleichwertige Lebensverhältnisse. Tatsache ist, für die Zukunft eines Kindes ist es von großer Bedeutung, wo es in Deutschland aufwächst. So liegt die Armutsgefährdungsquote für die Mädchen und Jungen in weiten Teilen Bayerns und Baden-Württembergs bei unter zwölf Prozent. In den Stadtstaaten, in den ostdeutschen Flächenländern sowie Teilen Nordrhein-Westfalens steigt der Anteil auf über 25 Prozent. Bundesweit zeigen statistische Untersuchungen übereinstimmend: jedes fünfte Kind ist armutsgefährdet.
Besonders von Armut betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden. Ihr Risiko, armutsgefährdet zu sein, ist mit 40 Prozent deutlich höher. Nicht einmal die Hälfte aller Alleinerziehenden, in der Regel Frauen, in der Bundesrepublik erhält Unterhalt vom Ex-Partner. Ersatzweise wird ein viel zu geringer und zeitlich zu kurz bemessener Unterhaltsvorschuss durch Bund und Länder gezahlt. Nicht alle Schwangeren und Mütter sind derzeit finanziell abgesichert. Die aktuell geltende Regelung des Mutterschutzes benachteiligt u.a. Minijobberinnen und Selbständige.
Kinder und Jugendliche tragen keinerlei Verantwortung für ihre Situation. Ihre Lebensumstände werden von den Eltern und der Gesellschaft bestimmt. Sie sollen die Einkommen der Zukunft erwirtschaften. Ethisch und volkswirtschaftlich wird die Armut von Kindern und Jugendlichen zum größten Problem unseres Landes.
Der Größe des Problems steht eine weitgehende politische Leere gegenüber. Obwohl Armut von Kindern und Jugendlichen kein neues Phänomen ist und regelmäßig Wissenschaft und Verbände darauf hinweisen, tendiert das bundespolitische Regierungshandeln gen null. Es fehlen nicht nur das Problembewusstsein, sondern auch konkrete Maßnahmepläne, um Kinderarmut zu verringern.
Die Bundestagsfraktion der LINKEN will den politischen Druck erhöhen, endlich zu handeln. Dazu berufen wir ein „Netzwerk gegen Kinderarmut“ ein. Dieses soll Expertise in und außerhalb der Partei DIE LINKE versammeln und die Grundlage für einen Plan zur Bekämpfung von Kinderarmut in Deutschland erarbeiten. Ziel ist es, einen ersten Zwischenbericht im Juni 2017 vorzulegen, der die Ideen und Forderungen zur Beseitigung der Kinderarmut bündelt. Der Bericht soll in einer Konferenz, auch unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen breit diskutiert werden.
Für die Erstellung des Berichts sehen wir u.a folgende Handlungsfelder:
1. Armutsberichterstattung, Maßnahmepläne, Ziele zur Reduzierung von Kinderarmut
Zunächst ist durch eine regelmäßige Berichterstattung zur Situation der Kinder- und Jugendlichen eine vergleichende Grundlage zu schaffen. Nicht in allen Bundesländern werden entsprechende Daten erhoben und veröffentlicht. Was sind die Ansprüche an eine Armutsberichterstattung? Welche realistischen Ziele zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe und finanziellen Situation können in welchem Zeitraum durchgesetzt werden?
2. Kinder- und Jugendschutz sowie Jugendhilfe ausweiten
Die Situation in den sozialpädagogischen Diensten der Jugendämter ist oftmals prekär. Mitarbeitende sind überlastet, die Fallzahlen je Beschäftigten übersteigen die fachlichen Empfehlungen. Die Untersuchungen der Gesundheitsämter werden trotz gesetzlicher Verpflichtung oftmals nicht durchgeführt. Die Kinder- und Jugendhilfe unterliegt in den Kommunen vielfach den Sparzwängen enger kommunaler Haushalte. Wie können im Bereich der staatlichen Angebote und Kontrollen die gesetzlichen Vorgaben zum Schutz und zur Förderung von Kindern und Jugendlichen besser verwirklicht werden?
3. Initiativen zur Verbesserung der gesellschaftlichen Teilhabe
Kinder und Jugendliche sind nicht nur relativ von Armut bedroht. Mittlerweile sind absolute Armutsfolgen feststellbar. Die gesellschaftliche Teilhabe muss deswegen dringend verbessert werden. Welche Konzepte können Armutsfolgen mindern? Wie steht es um die kostenfreie Versorgung in den Schulen mit Mittagessen? Was ist notwendig um die kostenfreie regionale Mobilität für Kinder in den Verkehrsverträgen der Länder zu verankern? Welche öffentlichen Freizeit- und Kulturangebote sind kostenfrei vorzuhalten und mit Hilfe wie können Kooperationen mit privaten Anbietern die Teilhabe verbessern?
4. Vereinbarkeit von Erwerbs- und Privatleben
Die Vereinbarkeit des Erwerbs- und Privatleben konnte in den letzten Jahren verbessert werden. Trotzdem ist die Situation längst nicht zufriedenstellend. In der einen Region fehlen Kitaplätze, andernorts ist der Personalschlüssel schlecht. Ein ganztägiger Kitaplatz für alle ist ohnehin nicht durchgesetzt. Wieviel Kita zu welchen Kosten brauchen wir? Welche Möglichkeiten geben wir Eltern privat mehr Zeit zu verbringen, ohne dadurch Lohneinbußen in Kauf zu nehmen? Schaffen wir eine Regelung, die es Eltern und Alleinerziehenden in Vollzeit individuell erlaubt, ihre Wochenarbeitszeit in einem ersten Schritt auf 35 Stunden bei vollem Lohnausgleich zu reduzieren?
5. Finanzielle Unabhängigkeit durch Kindergrundsicherung
Die Leistungen nach SGB II für Kinder und Jugendliche sind nicht bedarfsgerecht. Das Bildungs- und Teilhabepaket des Bundes erweist sich nach wie vor als teuer und ineffizient. Über ein Drittel der zur Verfügung stehenden Mittel werden vielfach alleine für die Verwaltung benötigt. Nicht alle Antragsberechtigte werden überhaupt erreicht. Die Kindergrundsicherung ist die von der LINKEN vorgeschlagene Alternative. Mit welchen Fördersätzen könnten die Eltern rechnen, welche Ausgaben für den Bundeshaushalt entstehen dadurch?
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